Vortrag und Diskussion mit Philip Zahner (Wien), der bei der Initiative Sozialistisches Forum (ISF) Wien assoziiert ist.

Freitag, 27.03.2020 von 19 bis 22 Uhr

Raum S24 im Seminargebäude der Universität Köln

Eine Veranstaltung der Georg-Weerth-Gesellschaft Köln

Selbst dort, wo, wie bei der Protestbewegung von 1968 und ihren späteren Zerfallsprodukten, hin und wieder das Stündchen der Selbstkritik schlug, destruierte die Linke ihre Illusionen in Sachen Klasse und Staat nie endgültig mit den Mitteln, die die Kritische Theorie und die Kritik der politischen Ökonomie dafür geboten hätten, sondern legte sie ab, wie um sie für den zukünftigen Gebrauch zu konservieren.

Und so folgt auf jeden Abschied auch ein Wiedersehen: Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die Linke, nachdem sie infolge des famosen „Abschieds vom Proletariat“ (André Gorz) durch die Neue Linke Anfang der 80er Jahre endgültig gesellschaftsfähig geworden war und zunächst vom Marxismus auf Parlamentarismus, Lebensreform und Ökopazifismus und später auf Identitätspolitik und Postmodernismus umgesattelt hatte, durch die neuerliche Dringlichkeit der ‚sozialen Frage‘ auch die mittlerweile gut abgehangenen Fetische der alten Linken wiederentdecken würde.

Die erhöhte Frequenz, mit der Intellektuelle im Namen des „Ottonormalarbeiters“ seit geraumer Zeit wieder strategische Manöver entwerfen und Organisationsdebatten führen, die vom
Bedürfnis bestimmt sind, an Glanz und Gloria vergangener Zeiten anzuknüpfen, um der postmodernen Identitätspolitik wieder eine ‚echte (klassen-)politische Perspektive‘ entgegenzusetzen,
nähren den begründeten Verdacht, dass es mit der Aufhebung des Marxismus zum Materialismus infolge rücksichtsloser Selbstkritik entgegen anderslautender Behauptungen auch dieses Mal nichts werden wird, gleicht die Beschwörung des Marxismus der alten Linken doch bereits im Ansatz dem Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Wie um unter Beweis zu stellen, dass es für die Linke keine Kritik geben darf, die nicht im Kern auf nationalen Opportunismus und eine höhere Form des Einverständnisses hinauslaufen würde, müssen neuerdings ausgerechnet Adorno und die Kritische Theorie dafür herhalten, diesen nostalgischen Retraditionalisierungsbestrebungen den Anschein kritischer Läuterung zu verschaffen. Und in gewisser Hinsicht kehrt dabei tatsächlich jene Janusköpfigkeit des Marxismus des vergangenen Jahrhunderts zurück: Wo die einen den linken Evergreen von der kritischen Sozialdemokratie anstimmen und abgeklärt, aber umso realitätstüchtiger versuchen, die Kritische Theorie der sozialdemokratischen Logik des kleineren Übels kommensurabel zu machen, um den Sozialstaat gegen den ‚Neoliberalismus‘ zu verteidigen, da träumen die anderen gleich von Partei und Avantgarde und spinnen sich einen ‚Adorno-Leninismus’ zusammen.

Der Vortrag möchte darlegen, weshalb es sich bei den interessierten Versuchen, Klasse, Politik und Organisation wiederzubeleben, um den Postmodernen ein Schnippchen zu schlagen, nur um eine Farce handeln kann, die, indem sie die Kritische Theorie ihrem politischen Bedürfnis assimilieren möchte, geistige Erfahrung noch dort zu zerstören trachtet, wo sie sich ihrer Möglichkeit nach einstellen könnte. Wenn für den Marxismus dabei eines geradezu konstitutiv ist, dann ist es das völlige Versagen in Sachen Staatskritik. Erinnert werden soll darum an die basale Erkenntnis, dass die Verstrickung des Marxismus in den katastrophalen Gang der Geschichte kein Zufall war und dass die Erfahrung der Shoa und des Nazifaschismus Handeln und Denken bis ins Innerste verändern muss.

Vortrag und Diskussion mit Philipp Lenhard

Mittwoch, 13. März 2019, 19 Uhr

Köln, Alte Mensa, Universitätsstr. 16b (Eingang Wilhelm-Waldeyer-Str.), Raum S204

Eine Veranstaltung der Georg-Weerth-Gesellschaft Köln

„Go West!“, sangen die Pet Shop Boys 1993 und brachten damit die ungeheure Anziehungskraft des kapitalistischen Westens nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus zum Ausdruck. Was damals wie eine Siegeshymne klang, erscheint aus heutiger Sicht nur noch als popkultureller Kitsch. Mit dem Zerfall seines einst größten Gegners hat auch der Westen seinen Glanz weithin eingebüßt. Die Verbindung von individueller Freiheit und unbegrenzten Konsummöglichkeiten, die die Massen in Ostberlin einst ebenso begeisterte wie die in Budapest, Moskau oder Beirut, ist im Westen selbst nicht mehr wohlgelitten. Statt Massenkonsum gibt es Konsumkritik, statt individueller Freiheit und der Emanzipation von der Herkunft Gruppenrechte, Kulturen, Regionalismus. Auch das Selbstbewusstsein des Westens ist verschwunden, von einem Kampf der Werte ist nichts mehr zu sehen. In der ideologischen Auseinandersetzung mit der islamischen Welt, Russland oder China wirkt es oft, als habe sich der Westen selbst aufgegeben. Der Rückzug der Vereinigten Staaten, der einst unbestrittenen Führungsmacht des Westens, aus der Weltpolitik gehört zu den Symptomen dieser Entwicklung. Inzwischen scheint nicht mal mehr klar zu sein, wer überhaupt zum Westen gehört und warum. Vor diesem Hintergrund fragt Philipp Lenhard, wer oder was der Westen einmal war, was seine Existenzbedingungen waren und wodurch er zusammengehalten wurde. Vor allem aber wird eine Antwort auf die Frage gegeben, warum er heute zu zerfallen droht.

Philipp Lenhard lebt in München, ist Historiker und Redakteur der Zeitschrift Prodomo; er ist Herausgeber der im Freiburger ca ira Verlag erscheinenden Gesammelten Schriften Friedrich Pollocks.

Vortrag und Diskussion mit Niklaas Machunsky

Mittwoch, 20. Februar 2019, 19 Uhr

Köln, Alte Mensa, Universitätsstr. 16b (Eingang Wilhelm-Waldeyer-Str.), Raum S204

Da sich die Gesellschaft zunehmend polarisiert, wittern die Sachwalter der sozialen Frage ihre Chance. Weite Teile der Gesellschaft sind in prekarisierte Arbeitsverhältnisse abgerutscht und das obwohl die Wirtschaft über Jahre boomte. Dass etwas getan werden muss, darüber herrscht rechts und links Einigkeit. Erstaunlicher aber noch, man ist sich auch bezüglich der Stoßrichtung einig: Zurück zum souveränen Nationalstaat!

Das deutsche Wirtschaftswunder der Vergangenheit stellt sich im Rückblick als rotbäckig, ruhig und hoffnungsfroh dar. Die Zeit des Wunders war eine der Restauration. Sie war geprägt von dem Versuch, die Entfesselung des Nationalsozialismus durch feste Formen wieder einzufangen. Gerade wegen der erfolgreichen Restauration ließ sie sich als eine klar umrissene Gesellschaftsordnung, als eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) oder als „verwaltete Welt“ (Adorno) beschreiben. Es handelte sich um eine Gesellschaft, in der die materiellen Unterschiede schrumpften und die Arbeiterklasse durch Teilhabe am Massenkonsum integriert war. Um eine Gesellschaft also, die geschützt hinter den festen Grenzen des Nationalstaates lebte und deren Mitglieder nach der Arbeit auf der Couch lagen, Derrick schauten, im Neckermann-Katalog blätterten und vom nächsten Campingurlaub träumten. Dieses „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit wird heute nur noch selten als Folge des Sieges über Nazi-Deutschland, geschweige denn seiner Vernichtungspolitik erklärt, sondern von Krieg und Barbarei losgelöst betrachtet. Doch es waren gerade die im Krieg entfesselten Produktivkräfte sowie die Vernichtung von Gebrauchswerten und Menschen, die in der Nachkriegszeit die Teilhabe der Massen am Konsum ermöglichten und eben diese Produktivkräfte waren es auch, die die vermeintlich festen Formen wieder verflüssigten.

Weil die Dynamik der in den späten 70er Jahren einsetzenden Globalisierung immer nur noch prekärere Verhältnisse zu schaffen droht und sie zunehmend auch die Mittelschicht ergreift, will ihr rechter und ihr linker Flügel zurück zum Idyll hinter dem Grenzzaun von einst. Dort hoffen die einen das Ethos der Volksgemeinschaft und die anderen Massenkonsum und Vollbeschäftigung zu finden und beide gemeinsam fürchten die Billigkonkurrenz aus dem Ausland. Das Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, sehen beide Fraktionen im Proletariat und deshalb beschwören sie dessen Wiederkehr. Es soll ihnen als Schwungmasse dienen, das Establishment zu verdrängen. Das grün-liberale Establishment, die Mitte, sieht ebenfalls das Potential für eine Revolte wachsen, aber wo die anderen das Proletariat beschwören, erkennen sie nur white trash. Aus demokratischem Respekt sprechen sie es aber als Proletariat an und versprechen ihm neue Formen der Repräsentation. Das Proletariat heute ist deshalb vor allem ein Schreckgespenst, mit dem sich die einzelnen Fraktionen der Mittelschicht gegenseitig bange machen.

Dieser Kampf um und mit dem Proletariat wird im Vortrag dargestellt und die gesellschaftliche Dynamik, deren Ausdruck dieser Kampf ist, beleuchtet. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Entwicklung des Gebrauchswerts gelegt, denn dessen Zerstörung sollte in eins zu gleich das Ende der Geschichte bedeuten. Doch weder kehrt das Proletariat zurück, noch befinden wir uns am Ende der Geschichte!

Niklaas Machunsky lebt in Köln, ist Sozialwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift Prodomo.

Dokumentation von Henryk M. Broder, BRD 1977, 90min mit zahlreichen Interviews
Einleitung und Diskussion: Alex Carstiuc und Anselm Meyer

Freitag, 19. Oktober 2018 um 19:00 Uhr
Raum S 204 in der Alten Mensa (Köln, Universitätsstr. 16, Eingang Wilhelm-Waldeyer-Str.)

 

Die erste Generation der Shoa-Historiker ist in Deutschland immer noch unbekannt, verdrängt und verleugnet.
Entgegen dem gängigen und kultivierten Mythos herrschte nicht jahrzehntelanges Schweigen vor.
Noch während der millionenfachen Vernichtung begannen jüdische Aktivisten mit der Dokumentation der Verbrechen und publizierten unmittelbar nach der Befreiung erste Quellen und Analysen, die in der Erstausgabe zumeist auf jiddisch verfasst waren und die bezeichnenderweise – zum Teil bis heute nur einem kleinen Kreis bekannt sind.
Zentrale Werke wie Léon Poliakovs “Bréviaire de la Haine”/dt. “Das Brevier des Hasses” – das erste wissenschaftliche Werk über die Shoa überhaupt – sind bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.
Den jüdischen Churban-Historikern, die den Holocaust untersuchten, bevor Begriffe wie “Holocaust” oder “Shoa” überhaupt geprägt wurden, schlug von Seiten der deutschen Historiographie – geprägt von Altnazis oder jungen “mitlaufenden Historikern” (Nicolas Berg) – vor allem Verachtung und Missbilligung entgegen. In Deutschland wurde hingegen leidenschaftlich über Strukturalismus und Intentionalismus diskutiert, aber lange Zeit nicht über die Täter als solche.
Die Werke Joseph Wulfs wurden pauschal als unwissenschaftlich abqualifiziert und die jüdischen Verfasser persönlich diffamiert. Wulf griff dem, was später als Täterforschung akademische Kariere machte, in seinen Studien vor.
Wulf blieb zeitlebens als Jude, Staatenloser und Privatgelehrter ein Außenseiter der Geschichtswissenschaft. Nach seinem Tod geriet sein Werk weitegehend in Vergessenheit.
Erst in jüngerer Zeit wird seine Person wieder wahrgenommen. Der Film von Henryk M. Broder ist eine der ersten Würdigungen des jüdischen Historikers überhaupt. Wir wollen daran anknüpfen und versuchen, Wulf und seine Werke wieder ins Bewusstsein zu rücken.

 

Anselm Meyer studierte Geschichte und Philosophie, arbeitet beim Editionsprojekt “Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden” und arbeitet zur frühen NS- und Shoaforschung.

Alex Carstiuc, Sozialarbeiter und Historiker, übersetzt gerade die Memoiren von Léon Poliakov und ist Mitbetreiber der Berliner Schankwirtschaft Laidak.

Samstag, 25.11.2017, 18:00 Uhr

Raum S204 in der Alten Mensa,  Eingang Wilhelm-Waldeyer-Str.,
Universitätsstr. 16,
50937 Köln

 

Der Begriff des Rackets, wie Horkheimer und Adorno ihn geprägt haben, bezeichnet eine gesellschaftliche Konstellation: die der nachbürgerlichen Gesellschaft, in der die polit-ökonomischen Formen der Vermittlung, der Tausch und das Recht durchsetzt, überformt und – wie im Nationalsozialismus – ersetzt werden durch Formen unmittelbarer Herrschaft. Rackets sind gesellschaftliche Einrichtungen, die ihren Angehörigen Protektion und materielle Gratifikationen gewähren; der Preis dafür ist die bedingungslose Unterwerfung des Einzelnen unter den informellen Apparat, die rückhaltlose Identifikation mit den von den obersten Einpeitschern ausgegebenen Parolen und die eigenverantwortliche Erfüllung der darin vorgezeichneten Ziele. Sowohl im Inneren eines Rackets als auch in seinem Verhältnis zum Rest der Gesellschaft tritt an die Stelle des Tausches die moralisch sanktionierte Erpressung. Ein Racket ist darin keine inhaltlich bestimmte, an bestimmte Lebensbereiche gebundene Einrichtung, sondern ein prinzipienloses Herrschaftsprinzip, das sich einer jeden vorgefundenen gesellschaftlichen Institution bemächtigen kann – und dabei diese Institution nach dem Urbild aller Rackets, dem Familienclan, transformiert. „Racket“ heißt deshalb: alles, was geschieht, als erweiterte Familienangelegenheit zu betrachten und nach dem informellen Gesetz der Familienehre zu behandeln.

 

Die Herrschaft von Rackets erscheint daher als Rückfall in archaische Formen der Vergesellschaftung. Aber diese Regression ist zugleich ein perverser Fortschritt, nämlich ein Zersetzungsprodukt der Moderne selbst: denn die soziale Basis von Rackets ist das in sich zerfallende bürgerliche Subjekt, das im selben Maße, wie es sich im Zerfallsprozess einrichtet und dabei den Sozialcharakter des enthemmten Subjektivisten ausprägt, selber zu einem Racket in Elementarform wird.

 

Der Vortrag entwickelt den Begriff des Rackets anhand dieses Sozialcharakters, in dem seine Herrschaft gründet; als Material dient ihm der Schuhfabrikant Heinrich Staudinger – ein Exponent und Säulenheiliger jener mittelständischen feinen Gesellschaft, die ihre Untergangsgestimmtheit in ihrer notorischen Kollaboration mit dem organisierten Islam auslebt.

 

Clemens Nachtmann ist Politikwissenschaftler und Komponist; er schreibt unter anderem für die Zeitschriften Bahamas, Jungle World und Versorgerin.

Freitag 22.09.2017, 19.30 Uhr
Probebühne (Alte Mensa/AStA Café),
Universitätsstraße 16a

Eine Veranstaltung der Georg-Weerth-Gesellschaft Köln

Mit freundlicher Unterstützung des Studierendenausschusses der Vollversammlung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln (StAVV)

Flyer zur Veranstaltung

Die Rede vom Racket erfreut sich unter Gesellschaftskritikern – insbesondere soweit sie sich in die Tradition der Kritischen Theorie stellen – großer Beliebtheit. Vom „Racket der Ärzte“ und „antirassistischen Rackets“ über russische Oligarchen und der Türkei unter Erdogan bis zur Islamischen Republik Iran und der Organisierten Kriminalität können mit diesem Begriff offenbar all jene organisatorischen Formen persönlicher Abhängigkeiten und jede Herrschaft jenseits von Tausch und Vertrag bezeichnet werden, die sich nicht unmittelbar in den herkömmlichen Begriffsapparat fügen wollen, wobei mal die Beutegemeinschaft, mal die Schutzfunktion durch Gehorsam und mal die politische Diskurshoheit die wichtigste Bestimmung des Racketbegriffs bilden.

Dementsprechend bleibt der Begriff oftmals seltsam unbestimmt, so dass jegliche Besonderheit der verschiedenen Formen der Herrschaft verloren zu gehen droht. Wenn der Begriff des Rackets dadurch aber nicht einmal mehr ermöglicht, zwischen der Mafia und der SS, zwischen Deutschem Gewerkschaftsbund und Hamas zu unterscheiden, verliert er nicht nur jeden kritischen Gehalt, sondern trägt ganz postmodern seinen Teil zur Zerstörung jeglicher politischen Urteilskraft bei.

In der Kritischen Theorie der 1930er und 1940er Jahre hingegen, in deren textlichen Fragmenten der Begriff des Rackets Erwähnung findet, schien er vielmehr gerade jene geschichtlichen Entwicklungen fassen zu wollen, die die bisherige marxistische Klassentheorie obsolet werden ließen.

Dieser war seit Ende des 19. Jahrhunderts, als die Arbeiterklasse und ihre Organisationen zunehmend in den Staat integriert wurden, der Bezug zur gesellschaftlichen Realität abhanden gekommen. Ebenso wenig vermochte es der traditionelle Marxismus, den durch das Bündnis von Kapital und Arbeit entstehenden Volksstaat begrifflich zu fassen, der zunehmend als Gesellschaftsplaner in Form eines bürokratischen Sozial- und Verwaltungsstaates auftrat. Dieser ersetzte durch Interventionen und deficit-spending die über den Markt vermittelte Zirkulation, zugleich wurden durch das Regieren in Form von Notverordnungen und Präsidialkabinetten aufgrund fehlender parlamentarischer Mehrheiten die Gewaltenteilung und durch temporäre Verhängung des Ausnahmezustands die individuellen Bürgerrechte eingeschränkt, obwohl gleichzeitig Konkurrenz, relative Mehrwertproduktion und Rechtsstaat formell weiter fortbestanden.

Der Begriff des Rackets, soweit er von Max Horkheimer als gesellschaftliche Organisation der Verteilung von Beute und Gewährung von Schutz im Gegenzug zu rückhaltlosem Gehorsam verstanden wird, scheint daher wie ein Versuch, diese Abschaffung der gesellschaftlichen Vermittlung theoretisch zu fassen.  Gleichzeitig wirft dies die Frage der Souveränität auf, da unklar bleibt, ob eine in miteinander konkurrierende und verfeindete Rackets zerfallende Gesellschaft überhaupt noch in Einheit zu bringen ist und worin diese Einheit bestehen könnte.

Soweit eine Theorie des Rackets bei diesen Überlegungen aus den 1930er und frühen 1940er Jahren stehen bleibt, die sich letztlich doch um die Analyse des Nationalsozialismus dreht, verweigert sie sich jedoch der Einsicht, dass die Herrschaft der Rackets im Nationalsozialismus nicht mehr bloße Schutz- und Beutegemeinschaften bedeutete. Zugleich versäumt es eine solche Begriffsbestimmung, die Aktualität des Racketbegriffs auch in der postnazistischen Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Wenn der Nationalsozialismus und seine politische Struktur einfach auf die postnazistische Demokratien, islamistische Terrorgruppen oder politische Interessensverbände übertragen wird, geht sowohl die Spezifik des Nationalsozialismus unter als auch ein adäquater Begriff der herrschenden Verhältnisse.

Der Nationalsozialismus radikalisierte und vollendete die Zerstörung der politökonomischen Vermittlungen der bürgerlichen Gesellschaft, indem er das Parlament zerschlug und die verbliebenen Berufsorganisationen in staatliche Massenorganisationen überführte. Zugleich ersetzte er in der zunehmend auf Kriegswirtschaft ausgerichteten Produktion den Markt durch staatlichen Rüstungskonsum und ordnete die gesellschaftliche Arbeit dem Vorbehalt der Nützlichkeit für Volk und Führer unter, was mit der Abschaffung persönlicher Grundrechte einherging. Hierdurch entstand jedoch gerade kein durchorganisierter Staat mit starrer Bürokratie und klar davon abgegrenzter Partei als jenen tragende Bewegung. Vielmehr bedeutete die Abschaffung der Vermittlung zugleich die Entfesselung der panischen und auf ihr „bestialisches Eigeninteresse“ (H. Marcuse) reduzierten Subjekte. Die verschiedenen Gliederungen der nationalsozialistischen Massenorganisation, die Parallelität von Partei, SS, Staatsbürokratie, Wehrmacht und Wirtschaft schaltete diesen entfesselten Subjektivismus nicht etwa aus, sondern gab ihm erst die entgrenzte Form, innerhalb derer er sich hemmungslos austoben konnte. Über allem stand der reale oder imaginierte Führerwille, der so diffus war, dass letztlich erst die absolute Feinderklärung gegen die Juden eine stets prekäre Einheit zu stiften in der Lage war. Die in den unterschiedlichsten Gruppen und Bewegungen eingebundenen Subjekte konkurrierten zwar miteinander um Karriere, Beute und Schutz, aber die Dynamik des allseitigen Kampfes stellte auch die Bedingung für eine permanente Radikalisierung des Judenmordes. Die fehlende Einheit der Rackets realisierte sich daher durch die Vernichtung der als „Gegenrasse“ projizierten Juden, gleichermaßen als Antizipation wie Umsetzung des Führerwillens – eine Dynamik, die nur durch die militärische Gewalt der Alliierten von außen gestoppt werden konnte.

Der Sieg der Alliierten bedeutete die aufgezwungene Reinstallation der markt- und rechtsförmigen Vermittlungen in Form einer reproduktiven Ökonomie sowie eines Rechtstaats mit Parlament und Gewaltenteilung. Dies geschah jedoch auf der politischen, wirtschaftlichen und sozialpathologischen Grundlage der nationalsozialistischen Gesellschaft. So wurden zur Verhinderung einer erneuten Verfassungskrise Teile des nationalsozialistischen Ausnahmezustands in die rechtsstaatliche Normalität integriert, während die Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit die demokratisierte Fortsetzung der Reichsarbeitsfront bedeutete. Die nationalsozialistische Politik der totalen Mobilmachung zur Vernichtung wurde so einerseits in das einzelne Subjekt wie in die Formen der gesellschaftlichen Vermittlung selbst verlagert, andererseits waren und sind es gerade diese, die in Gestalt der formellen, abstrakt-allgemeinen Grundrechte einer erneuten allgemeinen Mobilmachung Grenzen setzen. Auch wenn sich große Teile der deutschen Bevölkerung und insbesondere der deutschen Eliten heutzutage als geläuterte Vergangenheitsbewältigungsweltmeister und antirassistische Großmacht verstehen, so hat die nach 1945 durchgesetzte Reeducation eher zu einer Kanalisierung, Bändigung und Umleitung der wahnhaften und destruktiven Triebe auf Ersatzobjekte bei gleichzeitiger Verwehrung der asozialen Trieberfüllung geführt. Die formale Zivilisierung der Deutschen, zu der diese Reeducation unzweifelhaft beigetragen hat, heizt daher gleichzeitig die destruktive Dynamik innerhalb der Subjekte an. Dies ist auch der Grund, warum die postnazistischen Subjekte gerade dann gegen gesellschaftliche Institutionen wie Bürokratie, Justiz oder auch die Wissenschaft agitieren, wenn sie sich in der Ausübung ihres Größenwahns, ihrer wahnhaften Meinungsbildung wie ihres Strafbedürfnisses gehindert fühlen. Soweit sie sich dabei zu Kampagnen, Bewegungen oder sogar Parteien zusammenrotten, scheint es diesen bislang jedoch an der nötigen dauerhaften Bindung zu fehlen, gerade weil eine erneute Einheit in der Vernichtung der Juden schon qua antifaschistischem Selbstverständnis verunmöglicht wird und zudem das zwiespältige Credo, wonach die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsraison sei, vorerst auch eine offene militärische Mobilmachung gegen Israel verhindert. Während Islamisten ihre Judenfeindschaft nur dank Ausländerbonus und Opfergehabe relativ ungehindert verbreiten können, sind Neonazis gesellschaftlich und politisch noch immer marginalisiert. Beide eint jedoch, dass sie das einheitsstiftende Moment des Antisemitismus erkannt haben und sich solcherart als eine Alternative für Deutschland und die Welt anpreisen, die in einer zerrissenen Welt wieder Ordnung und Sicherheit schaffen könne. Die etablierten Parteien und Verbände in Deutschland begegnen diesem Werben zunehmend hilflos und verweisen darauf, dass nach ihnen alles nur noch schlimmer werde. Der Erfolg – geringe Arbeitslosenquote und wirtschaftliche Prosperität – gebe dem Modell der liberalen Demokratie recht.

Unsichtbar wird hierbei jedoch, dass der paternalistische Sozialstaat als einstiger Garant gesellschaftlicher Einheit durch Wohlstand spätestens seit der Verabschiedung der Hartz-Gesetze wieder weniger als fürsorglicher Vater, sondern zunehmend als reine Zwangsgemeinschaft auftritt, was mit einem gleichzeitigen Auslagern einstiger staatlicher Aufgaben und Leistungen an gesellschaftliche Institutionen einhergeht, in deren innerer Organisation die ansonsten geltenden politökonomischen Vermittlungen zum Teil bereits außer Kraft gesetzt sind – die also den vollen Gehorsam des Unterworfenen fordern – und deren Zweck in der Verteilung der Beute und der Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes gesellschaftlicher Ordnung zu liegen scheint.

Das neoliberale „Outsourcing des Staates“ hat zu der Situation geführt, dass nun nicht-staatliche Gruppen zunehmend Ordnungsfunktionen des alten, zentralisierten Sozialstaates übernehmen. Es ist kein Zufall, dass der Bedrohung durch islamischen Terrorismus nicht nur durch Repression und Integrationspolitik begegnet wird, sondern auch durch eine Aufwertung der Moscheevereine und Imame zu community-internen Ordnungshütern. Die Tatsache der Parallelgesellschaften wird damit freimütig akzeptiert und in schlecht kommunitaristischer Manier den bärtigen Männern überlassen, sich doch bitte um die eigenen Belange selbst zu kümmern. Nicht nur materiell, vor allem ideologisch scheint die bestehende Gesellschaft nichts mehr anzubieten zu haben, was die fragmentierten Gruppen im Sinne eines gesellschaftlichen Konsenses einen könnte. Damit schlägt die Stunde der racketeers, die nicht nur ideologische Rationalisierungen des subjektiven Wahns im Gepäck haben, sondern auch materielle Absicherung und die Ausagierung destruktiver Triebe anbieten.

Interview – PDF-Version

Allerorten herrscht Unsicherheit. Die Regelmäßigkeit von Terroranschlägen in Europa, das neoimperialistische Gebaren Russlands und der Türkei, die Flüchtlingskrise und ihre innenpolitischen Langzeitfolgen, der Aufstieg des Iran zur Ordnungsmacht, die fortgesetzte Bedrohung Israels, die Fragilität der Europäischen Union sowie die Wahlsiege rechtspopulistischer Parteien hinterlassen bei vielen das Gefühl, in einer Zeit gefährlicher Umbrüche zu leben – mit ungewissem Ausgang. Da sind natürlich Gesellschaftskritiker gefragt, die nicht nur sich, sondern auch den weniger Engagierten und Belesenen erklären, was Sache ist. Da die Georg-Weerth-Gesellschaft Köln (GWG) zwar unbedingt die Denunziation schlechter Zustände befördert, aber nicht für sich beansprucht, in jeder Minute der Vorgeschichte der Menschheit zu wissen, wohin die Reise geht, hat sie sich vor kurzem dazu entschlossen, eine Gruppe mehr oder weniger nahestehender Mitstreiter einzuladen, um von diesen zu erfahren, wie die aktuellen Entwicklungen einzuschätzen und zu bewerten sind.

Anfang Januar 2017 war es dann soweit: In der altehrwürdigen Kölner Weinstube Bacchus kam es zur großen Aussprache. Anwesend waren Detlev, ein langjähriger Aktivist der antideutschen Szene, der Bekannte in der Hauptstadt hat; Ralf, der in einem lokalen Bündnis gegen den Antisemitismus streitet; Markus, der einzelgängerisch staatskritische Pamphlete veröffentlicht und Hausverbot im lokalen Autonomen Zentrum hat; Thorsten, der nur zufällig gerade in Köln ist, weil er ansonsten als Journalist durch die Welt tingelt; Peter, der den Verband Junge Transatlantiker in der CDU gegründet hat und sich immer wieder mit meinungsstarken Analysen medial zu Wort meldet; sowie Joseph, der als kritischer Intellektueller das Politische und die ästhetische Erfahrung eng ineinander verschränkt weiß und daraus radikale Konsequenzen zieht. Gemein ist ihnen allen – und Voraussetzung für die Einladung – die Solidarität mit dem jüdischen Staat Israel sowie die Gegnerschaft zu den vier großen Totalitarismen der Moderne, namentlich Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus und Islamismus.

 

 

GWG:             Guten Abend, schön, dass ihr da seid. Ich will gar keine lange Vorrede halten. Die Georg-Weerth-Gesellschaft Köln, die ich heute abend vertrete, hat ein paar Fragen zusammengestellt, die wir gerne von euch beantwortet hätten. Zunächst mal aber: Sind alle mit ausreichend Wein ausgestattet?

 

(Zustimmendes Gemurmel.)

 

Ralf:              Ich hab mein Zitronenwasser, das reicht mir.

 

GWG:             Gut, dann können wir loslegen. Also zunächst mal würde mich interessieren, wie der Wahlsieg Donald Trumps außen- und innenpolitisch zu bewerten ist. Was bedeutet es, dass jemand wie er Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden kann?

 

Detlev:          Das weiß man noch nicht, insofern würde ich zunächst mal all den Apokalyptikern, Schwarzmalern und anderen Antiamerikanern das Maul verbieten wollen. Generell ist aber davon auszugehen, dass seine Präsidentschaft im Vergleich zu der Obamas positive Effekte zutage fördern wird. Trump ist erwiesenermaßen gegen den Islam und gegen den Iran-Deal. Er befürwortet die Stärkung republikanischer Souveränität, wie sich nicht zufällig daran zeigt, dass er einen Unterstützer Israels wie David Friedman zum US-Botschafter in Israel ernannt hat, dessen Hauptstadt bald hoffentlich auch von den USA offiziell anerkannt wird.

 

Markus:         Klar, dass ihr euch sofort wieder den Kopf des Souveräns zerbrecht anstatt ihn zu kritisieren. Bei aller Unterstützung Israels darf man doch nicht vergessen, dass die radikale Kritik der Logik der Staatlichkeit das sine qua non der Befürwortung Israels ist. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Das wusste der Nazi Carl Schmitt wie der lächelnde Multimillionär Donald Trump, und beide kalkulieren, dass im Ernstfall die Krise nur durch die Schaffung einer Volksgemeinschaft zu retten ist. Und in der haben die Juden bekanntlich keinen Platz.

 

Joseph:           Markus, das ist doch viel zu abstrakt gedacht. Hitler = Trump, das funktioniert nicht. Du darfst die Resistenzkraft der amerikanischen Kultur nicht vergessen. Es ist eben kein Zufall, dass die Shoah von den Deutschen verübt wurde und nicht von den Amerikanern. Wenn man über Plattitüden hinauswill, gilt es, Souveränität vom Angelpunkt des individuellen Lebens her zu betrachten. Schützt der Souverän das Leben, weil er es kapitaler Ausbeutung unterwerfen will, oder vernichtet er es, weil er dem Wahn nicht mehr standzuhalten vermag? Das ist die Unterscheidung zwischen Behemoth und Leviathan und nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Wahl Trumps angemessen beurteilen. Alles kulminiert in der Frage, wie Israel als zugleich Inbegriff und Dementi des Leviathan am besten geschützt werden kann.

 

Thorsten:      Ein bisschen komplizierter ist es schon als die Alternative Leben schützen oder Leben vernichten. Es gibt ja noch andere Möglichkeiten, etwa die, überhaupt nichts zu tun. Und das ist bei Trumps Administration der Fall, die Obamas Isolationismus konsequent fortführt. Schon der hatte ein Machtvakuum geschaffen, das die Achse Moskau-Teheran-Damaskus gerne ausfüllte. Und bei Trump geht das nun so weiter. Insofern kann es auch ernstlich nicht verwundern, dass Trump so ein großer Putin-Fan ist. Trump ist Obama II.

 

Ralf:              Ich bin empört, wie hier gesprochen wird! Mit keinem Wort wurde hier der rechte Populismus, der Rassismus, der Sexismus, die Homophobie und der Antisemitismus der weißen amerikanischen Mehrheit erwähnt, die Trump gewählt hat. Der Mann ist ein Faschist!

 

Detlev:          (Belustigt) Das mag ja alles sein, aber schon daran, dass Du klingst wie der Prantl-Heribert merkt man, dass Deine Moralisiererei mit der Lüge verschwistert ist.

 

Ralf:              (Kleinlaut) So wie Prantl will ich natürlich nicht klingen, so ist es auch nicht gemeint. Das weißt Du selbst. Mir ist klar, dass man in Deutschland aufpassen muss, wann man wo wie spricht. Laut empirischen Umfragen ist der Antiamerikanismus in Deutschland in den letzten Jahren wieder angestiegen. Davon gilt es sich deutlich zu distanzieren!

 

Peter:             Da kann ich endlich mal zustimmen. Wir als Deutsche verdanken den Amerikanern viel. Deshalb müssen wir immer an der Seite Amerikas stehen, auch wenn der zu erwartende Isolationismus und Protektionismus unsere Partnerschaft vorübergehend belasten mag. Aber ich bin mir sicher, diese Phase geht vorüber, denn der Westen gründet schließlich auf gemeinsamen Werten. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel muss jetzt klare Kante zeigen und Deutschland stellvertretend zum Anker dieser Werte in der Welt machen.

 

GWG:             Ich möchte nochmal aufgreifen, was Thorsten vorhin erwähnt hat: Trumps Verhältnis zu Putin. Wie kam es zu dieser Annäherung und wie schätzt ihr Russlands neu-alte Rolle als global player ein?

 

Detlev:          Etwas zugespitzt ausgedrückt: Wie Horkheimer kommt auch Trump aus der Geschäftswelt. Statt Ideologie zu betreiben kümmert sich der Kaufmann von Berufswegen um gute »Deals«. Trump mag zwar einige hässliche Aussagen getätigt haben, um gewählt zu werden, aber sein Naturell ist die Rationalität des Warentausches. Das verbürgt eine gewisse Restvernunft, die man Putin und unserer Flüchtlings-Merkel rundweg absprechen muss. Da stehen sich zwei Prinzipien gegenüber: Die Rationalität des Warentausches und das, was Adorno als Essenz deutscher Ideologie ausgemacht hat: eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun. Also bürgerliche Zweckrationalität versus vorbürgerliche Willkür.

 

Markus:         Der Wert ist Identität und Identität ist Tod!

 

Detlev:          Ach, Du mit Deinem unverdauten Adorno. Fakt ist, dass Trump zwar eine unschöne Figur ist, aber die rechtsstaatliche Tradition Amerikas ihn letzten Endes überdauern, wenn nicht gar zähmen wird.

 

Peter:             Da kann ich nur zustimmen. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland in Zeiten der Schwäche der NATO auch und gerade für seine osteuropäischen Partner ein verlässlicher Verbündeter ist.

 

Thorsten:      Ohne Amerika ist die NATO ein Papiertiger. Deswegen muss Deutschland seine Hausaufgaben machen und endlich mindestens 17,8% seines Bruttosozialproduktes in die Rüstung stecken.

 

Peter:             (Starkes Nicken.)

 

Ralf:              (Empört) Ist es wieder so weit, dass der deutsche Intellektuelle dem Krieg das Wort redet? Das lehne ich kategorisch ab, da mache ich nicht mit! Fehlt nur noch, dass ihr von »dem Russen« sprecht!

 

Detlev:          Nun, der Russe ist…

 

Thorsten:      (Fällt Detlev ins Wort.) Während Du Schattenkämpfe der Vergangenheit führst, hat Russland längst zusammen mit seiner Schachfigur Assad einen Genozid in Aleppo betrieben!

 

Joseph:           In Aleppo hat der Westen versagt, weil er keinen Begriff mehr hat vom Wesen der westlichen Souveränität. Was es bräuchte, wäre gewissermaßen eine Winston-Churchill-Lektüre mit den Augen Karl Marx’. Oder anders gesagt: Es gilt Woody Allen mit Sartre zu verbinden: Während jener wusste, dass gegen den Wahn keine Pamphlete helfen, sondern nur Baseballschläger, forderte dieser die »Liga gegen den Antisemitismus«. Es kommt also auf jeden einzelnen an, sich dem Wahn entgegenzustellen, der freilich objektive Ursachen hat.

 

Thorsten:      Als jemand, der regelmäßig konkret vor Ort ist, weiß ich, dass es viele Einzelne gibt, die helfen. Dieses Engagement wird viel zu wenig gewürdigt. Schau mal auf die Organisation »Ärzte ohne Grenzen«, die wirklich wertvolle humanitäre Arbeit leistet. Die helfen ganz konkret.

 

Markus:         (Singt Ernst Busch) »…das goldene Fettherz der Bourgeoisie…« Wenn ich Dich reden höre, werde ich ja fast rührselig. Sollen wir gleich noch Werbebanner mit dem Spendenkonto hochhalten?

 

Ralf:              Markus, das ist jetzt aber wirklich geschmacklos, zynisch und menschenverachtend. Du willst doch auch, dass den Leuten geholfen wird!

 

Markus:         Zynisch und menschenverachtend ist die deutsche Flüchtlingspolitik.

 

Detlev:          Du glaubst auch, dass jeder Mensch, der mit dem Schlauchboot in Lampedusa ankommt, ein guter Mensch ist, oder?

 

Peter:             Da kenn ich einen guten Witz: Was ist der Unterschied zwischen einem Flüchtlingsboot und schwarzem Humor? – Beide kommen nicht immer gut an!

 

Ralf:              Mir reicht’s gleich! Das ist ja unerträglich! Sind wir hier beim CDU-Stammtisch oder was?

 

Peter:             Schön wär’s.

 

GWG:             Das ist vielleicht ein guter Zeitpunkt, um über das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik zu sprechen, zugespitzt in der Flüchtlingspolitik, die ja gewissermaßen einen Knotenpunkt zwischen beiden Sphären bildet.

 

Detlev:          Das ist ganz einfach: Ein souveräner Staat muss zur Not mit allen Mitteln seine Grenzen nach außen und innen verteidigen. Es war klar, dass ein Großteil der Flüchtlinge mit der westlichen Tradition des Rechtsstaates und der Aufklärung auf dem Kriegsfuß steht. Die bereits vor der Krise bestehenden Parallelgesellschaften und Enklaven antiwestlicher Gegensouveränität werden durch den ungehinderten und unbegrenzten Flüchtlingszuzug nachhaltig gestärkt. Deshalb ist die Forderung von Obergrenzen ganz vernünftig, auch wenn man vielleicht nicht unbedingt ein Freund kapitalistischer Verhältnisse ist. Der Islam ist gegenüber unseren freiheitlich-demokratischen Spielregeln eindeutig das größere Übel.

 

Peter:             Da kann ich nur zustimmen, aber erstens hat die Regierung inzwischen ja Maßnahmen ergriffen und zweitens würde ich bezüglich des Islam doch zur Differenzierung mahnen…

 

Ralf:              Differenzieren, genau!

 

Peter:             …man muss zwischen Islam einerseits und islamistischem Extremismus andererseits unterscheiden. Sonst haben wir den Generalverdacht und der ist aus guten Gründen verfassungswidrig. Der Islam ist durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt und das ist eine wichtige Errungenschaft unserer Demokratie. Der Islam ist ein Teil Deutschlands, aber das heißt natürlich nicht, dass unsere deutsche Leitkultur nicht maßgeblich durch das christlich-jüdische Erbe geprägt ist.

 

Ralf:              Nur dass diese Leitkultur alle Juden ermordet hat!

 

Joseph:           Touché, aber es war, genauer betrachtet, selbstverständlich nicht »die Kultur«, sondern die Masse der atomisierten Einzelnen, die sich zur Volksgemeinschaft formiert haben, um die Shoah ins Werk zu setzen. Das kollektive »Wir«, das Du, Peter, ständig im Munde führst, steht in dieser Kontinuität der Volksgemeinschaft, und sei sie auch noch so sehr demokratisch überlackiert. Die wirklichen Träger der vielgelobten deutschen Kultur waren in Deutschland die Juden. Und die haben die Deutschen nahezu ausgerottet.

 

Peter:             Aber es waren doch gerade auch Juden, die nach 1945 am Aufbau demokratischer Institutionen beteiligt waren. Insofern ist diese Tradition ja nicht abgerissen, sondern Teil der bundesrepublikanischen Identität. Und die gilt es heute gegen Verfassungsfeinde jeglicher Couleur zu verteidigen.

 

Detlev:          Da hast Du recht, aber indem Du Dich einer schlechten Totalitarismustheorie bedienst, verdreht sich das Richtige gleich in eine Lüge. Es muss gesagt werden, dass die rechtsstaatlichen Institutionen heute in erster Linie gegen den Islam und seine staatskritischen Verharmloser verteidigt werden müssen.

 

Joseph:           Du hörst Dich an wie Pegida.

 

(Detlev wirft Joseph einen verächtlichen Blick zu.)

 

Thorsten:      Ohne das Versagen des Westens wäre es nie zur Flüchtlingskrise gekommen. Gerade Angela Merkel hat sich durch ihre außenpolitische Passivität in dieser Hinsicht nicht mit Ruhm bekleckert.

 

Markus:         Ihr verhandelt hier doch Scheinfragen. Worum es gehen müsste, ist die Spaltung der Gattung, die durch die Produktionsverhältnisse, in politischer Hinsicht aber spiegelbildlich auch durch das nationalstaatliche Prinzip vollzogen wird. Ihr lasst euch auf dieses Spiegelspiel der Politik ein, anstatt es zu kritisieren. Damit habt ihr euren Verstand im Vorzimmer des Bundeskanzleramtes abgegeben.

 

Joseph:           Was Du sagst, stimmt. Einerseits. Andererseits verbleibt Deine staatskritische Bestimmung im Abstrakten: Wer über den latenten Ausnahmezustand zwischen den Staaten nicht sprechen will, soll auch von der Souveränität schweigen.

 

Markus:         Was interessieren mich die Konkurrenzverhältnisse zwischen Nationalstaaten, wenn ich meine Stromrechnung nicht bezahlen kann?

 

Ralf:              Womit erwiesen wäre, dass Du ein ordinärer Staatsfeind, vulgo: Antizionist bist.

 

Markus:         So ein Blödsinn, ich kann Israel doch gegen den Antizionismus verteidigen, ohne daraus zum Liebhaber des Staates zu werden! Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nur weil ich dem Fetischismus des Staates nicht auf den Leim gehe, kann ich den Antizionismus radikal kritisieren.

 

Thorsten:      Dein Kritikastertum hilft aber Israel nicht. Das tun nur Sanktionen gegen den Iran – und nötigenfalls Marschflugkörper und bunkerbrechende Bomben. Das setzt einen Verteidigungshaushalt voraus, und der wiederum eine florierende Ökonomie und ein gutes Steuersystem.

 

Peter:             Also ein funktionierendes Staatswesen nach westlich-demokratischem Modell. Wer für Israel ist, muss ein Freund der westlichen Demokratie sein. Mitgliedsanträge für die CDU habe ich dabei.

 

GWG:             Aber können wir heute von so einem einheitlichen, rationalen Staatswesen überhaupt noch sprechen, wie es im Lehrbuch des Liberalismus ausgemalt wird? Ich spiele auf die Rackettheorie der Kritischen Theorie an. Ist diese angesichts der überall zu hörenden Forderung nach dem starken Staat zu verwerfen?

 

Detlev:          Auf keinen Fall, denn sie wurde ja in einer ähnlichen historischen Situation formuliert wie heute. Zwar ist heute der liberale Staat als unbedingte Voraussetzung besserer Zustände nicht mehr gegen die Nazis, sondern gegen den Islam zu verteidigen. Das Prinzip bleibt aber dasselbe: Nur ein Rechtsstaat, in dem die Verfahrensvorschriften und abstrakten Setzungen Willkür einhegen und begrenzen, kann eine wirksame Waffe gegen das Racket sein. Der Begriff ist kritisch gemeint, also als unbedingt zu verhindernde Auflösung des Gewaltmonopols und der demokratischen Institutionen in anarchische Vielfalt.

 

Ralf:              Du scheinst mir regelrecht besessen von der Gewaltfrage zu sein. Müsste es nicht mehr um den Kampf um die Köpfe gehen? Teile der Zivilgesellschaft sind Aufklärung und Kritik gegenüber durchaus aufgeschlossen. Unser Bündnis hat damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Einmal hat sogar der WDR unsere Veranstaltungsreihe angekündigt und als – ich zitiere – »wichtig« bezeichnet. On Air. Unsere Arbeit erreicht viel mehr Leute als euer elitärer Radikalismus.

 

Joseph:           Euer Engagement in allen Ehren, aber ihr verdrängt das aufklärungsresistente Wesen des Antisemitismus, wenn ihr glaubt, ihn mit guten Argumenten entkräften zu können.

 

Markus:         Das gilt aber in anderer Weise auch für Dich, Detlev. So sehr ich mit Dir in Bezug auf die historische Kontextualisierung des Racketbegriffs übereinstimme, so sehr ist doch auch augenscheinlich, dass die Verdrängung des Wahns auch bei Deinem allzu harmonischen Begriff des Staates wirksam ist. Vielleicht war das bei Neumann und Kirchheimer auch schon so. Das Problem ist ja, dass es aufs Wollen allein nicht ankommt: Der Zerfall des Gewaltmonopols ist heute so wenig wie in den dreißiger Jahren ein Produkt des Zufalls oder der Entscheidung, sondern Ausdruck des kapitalentsprungenen Wahns.

 

Joseph:           Genau, aber damit doch auch wieder eine Frage der Entscheidung. Oder, um es mit Sartre zu sagen: der »Flucht vor der Freiheit«, also einer Nicht-Entscheidung. Das Individuum bleibt bei all dem irreduzibel. Daher bin ich in diesem Punkt durchaus bei Detlev: es kömmt darauf an, den Leviathan gegen den Behemoth zu verteidigen.

 

GWG:             Immer wieder tauchte nun das Verhältnis von Individuum und Objektivität, also implizit auch das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, zum Fetischcharakter der Ware, zur Ideologie, zum Wahn, zum Antisemitismus und so weiter auf. Etwas ketzerisch gefragt: Inwiefern kann oder muss das beschädigte Individuum überhaupt noch Bezugspunkt der Kritik sein?

 

Detlev:          Wer diese Frage stellt, ist schon vom postmodernen Virus infiziert. Selbstverständlich ist das Individuum – gerade weil es so beschädigt ist – immer gegen den Zu- und Übergriff des Objektiven zu verteidigen. Sonst macht man sich mit den geistigen Brandstiftern, die sich den »Tod des Subjekts« auf die Fahnen geschrieben haben, gemein.

 

Peter:             Ich verstehe die Frage nicht.

 

Thorsten:      Es geht darum, denen, die von repressiven Regimen unterdrückt werden, zu helfen und die internationale Gemeinschaft auf ihr Leid aufmerksam zu machen.

 

Peter:             Ach so.

 

Joseph:           Nein, die Frage ist, ob nicht das Individuum von den Verhältnissen erdrückt wird. Das evoziert aber die Frage, wie die Verhältnisse, die ja als »stummer Zwang« auftreten, das tun? Wir befinden uns ja metaphorisch gerade im Nebelreich der Religion mit ihren theologischen Mucken. Freud und seine Schüler Adorno und Horkheimer haben darauf hingewiesen, dass der Einzelne sich selbst – und das heißt nicht zuletzt: seinem individuellen Leib – tagtäglich antut, was die Gattung als Ganze im Zivilisationsprozess erleiden musste. Wenn wir daher vom Individuum sprechen, kann es sich nur um einen Residualbegriff handeln, einen Rumpfbegriff gewissermaßen.

 

Markus:         Ja, aber bei Dir klingt es jetzt so, als sei die Form der Individuation eine Naturnotwendigkeit. Wir müssen aber über den gesellschaftlichen Stoffwechselprozess mit der Natur sprechen, also über Herrschaft und Ausbeutung. Der Einzelne verlängerte die Lohnarbeit ins Private, objektiver Zwang ist die Voraussetzung für die Selbstzurichtung des Einzelnen. Deshalb ist es ja eine Lüge, wenn die Priester der Marktwirtschaft predigen, der Kapitalismus sei so prima für das Glück des Einzelnen. Es komme eben auf den Einzelnen an, ob er Schmied seines Glückes werden wolle oder nicht.

 

Peter:             Niemals gab es mehr Freiheit und Wohlstand als in der sozialen Marktwirtschaft. Alle Utopien haben zu Willkür und Armut geführt.

 

Joseph:           Das ist so, leider. Aber es heißt nicht, dass es für immer so bleiben muss. »Where everything’s bad, it’s good to know the worst«, aber zugleich: It’s still bad. Außerdem ist das Schlechte eben auch die Voraussetzung für das Schlimmste.
GWG:             Dies scheint mir ein gutes Schlusswort zu sein. Vielen Dank für die erhellenden Antworten.

Jonas Fedders plädierte kürzlich in der Jungle World (42/2016) für eine „emanzipatorische und demokratische Auseinandersetzung mit der muslimischen Religion und dem politischen Islam“ und stellte dieser den von uns mit unterstützten Aufruf zur vor über zwei Jahren in Köln stattgefundenen Demonstration „Es gibt kein Menschenrecht auf Israelkritik!“ gegenüber. Der Aufruf erinnere, so raunte Fedders, an „kulturellen Rassismus“. Es ist mittlerweile ein altbekanntes Spiel: Wer das Elend der real existierenden muslimischen communities und der islamischen Welt insgesamt benennt, wird mit Pegida, AfD oder Schlimmerem gleichgesetzt. Im Resultat wird damit verhindert, dass die empirisch zweifelsfrei belegbare Affinität des zeitgenössischen Islam zu Judenfeindschaft und Christenverachtung, zu homophoben und sexistischen Einstellungen, zu Verschwörungstheorien und Omnipotenzfantasien überhaupt diskutiert, geschweige denn politisch bekämpft wird. Warum gerade Linke sich dem Engagement gegen die Islamkritik so sehr verschrieben haben, lässt sich eigentlich nur dadurch erklären, dass sie – insgeheim oder offen – glauben, „Schnittmengen“ (Oskar Lafontaine) zwischen Islam und linker Politik ausmachen zu können. Andernfalls bliebe nur noch eine psychologische Erklärung übrig: Identifikation mit dem Aggressor, Feigheit vor dem Feind, vorauseilende Kapitulation.

Wie auch immer es sich im Falle Fedders’ verhält, jedenfalls schreckt er nicht davor zurück, die dümmsten aller Begründungen anzuführen, warum der genannte Demonstrationsaufruf politisch und moralisch indiskutabel sei: Erstens sprächen wir von „dem Islam“ und essentialisierten damit ein so wunderbar vielfältiges – ja, was eigentlich? – Phänomen, zweitens ersetzten wir den alten Rassebegriff durch den der Kultur. Es handelt sich hierbei um die inzwischen klassisch gewordenen Argumentationsmuster der antiislamophoben Ideologen. Da sich in Fedders’ Text all das verdichtet, was gefühlte 300 Sammelbände aus dem Bielefelder Transcript-Verlag immer aufs Neue breittreten, eignet er sich hervorragend, um die theoretischen Annahmen einer ganzen Szene auf den Prüfstand zu stellen.

Vorwurf 1, die „Essentialisierung“, klingt zunächst gelehrt, entpuppt sich aber bei näherer Betrachtung als siebengescheiter Hinweis auf die Tatsache, dass es im Islam verschiedene religiöse Strömungen gibt, dass die islamische Welt sich nicht auf Saudi-Arabien beschränkt und es politische Kämpfe zwischen unterschiedlichen Fraktionen, Gruppen und Staaten gibt. Keinen einzigen Jungle World-Leser wird das überraschen und vermutlich auch 95% aller Bild-Leser nicht. Aber was bedeutet die Feststellung der Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit politisch? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man zieht aus ihr den Schluss, dass der Begriff „Islam“ überhaupt nichts erklärt (dann würde man das Selbstverständnis der meisten Muslime ignorieren), oder man hält fest, dass es trotzdem etwas die verschiedenen, sich auf den Islam beziehenden Personen und Kollektive Verbindendes gibt, das ihr Handeln, Denken und Fühlen beeinflusst. Fedders ist positiv anzurechnen, dass er seinen eigenen Antiessentialismus nicht ernst meint, denn er fordert ja selbst eine „Kritik der muslimischen Religion“. Damit hält er fest, dass es tatsächlich eine „Essenz“ oder ein „Wesen“ des Islam gibt – der positive Bezug auf mehr oder weniger als sankrosankt geltende Schriften (Koran, Hadith) und, noch wichtiger, die Verherrlichung des Propheten Mohammed. Dass die Auslegung der Schriften wie in jeder anderen Buchreligion umkämpft ist und die reine Lehre nicht unbedingt mit der gelebten Religion identisch ist, versteht sich von selbst, aber daraus den Schluss zu ziehen, es gebe den Islam überhaupt nicht, ist so hanebüchen, als wolle man behaupten, es gebe das Auto nicht, nur weil neben VW und Mercedes gelegentlich auch noch Cadillacs auf Deutschlands Straßen gesichtet werden. Oder, auf eine geistigere Sphäre übertragen: Man kann Ludwig Feuerbachs epochalem Werk Das Wesen des Christentums viel vorwerfen, aber nicht, dass es sich an einer Ideologiekritik des Christentums versucht. Auch Feuerbach war bekannt, dass das Christentum kein „monolithischer Block“ ist, sondern sich neben Katholizismus und Orthodoxie auch noch Dutzende kleine Protestantismen unter dem Banner des Christentums tummeln, aber es hat ihn nicht davon abgehalten, das Christentum als verzerrte Projektion menschlicher Bedürfnisse zu dechiffrieren. Von den Fedders’ dieser Welt hingegen, die wohlfeil eine „Religionskritik“ des Islam fordern, hört man zu diesem Punkt erstaunlich wenig. Wenn sie es doch so wichtig finden, die islamische Religion zu kritisieren, warum tun sie es dann zur Abwechslung nicht einfach mal?

Fedders’ zweiter Vorwurf – den, wir ersetzten angeblich den Begriff der „Rasse“ durch den der „Kultur“– schließt direkt an den ersten an: Jeder, der sich sprachlich äußert, hat das Problem, das, worüber er spricht oder schreibt, zu bezeichnen. Wenn es sich aber nicht um bloße Namen handeln soll – Nominalismus ist in letzter Konsequenz Willkür und führt dazu, dass Menschen sich nicht mehr verständigen können –, sondern das Wort etwas von der Sache erfassen soll, haben wir es mit Begriffen zu tun. Wer den Islam begreifen will, muss sich also begrifflich festlegen. Fedders hat das getan: Er sagt, der Islam sei eine Religion. Darüber, wie sinnvoll diese Aussage ist, kann man sicherlich streiten, aber man sollte sich zumindest darüber im Klaren sein, dass der Begriff „Religion“ historisch westlichen Ursprungs ist und im 19. Jahrhundert maßgeblich von protestantischen Intellektuellen popularisiert wurde. Die islamische Tradition jedenfalls sieht in der Umma weit mehr als eine Glaubensgemeinschaft – eine vor allem durch gemeinsame politische und rechtliche Normen zusammengehaltene Gemeinde, deren Grundlage zwar ein religiöses Bekenntnis (im Sinne eines spezifischen Transzendenzbezuges) ist, die in diesem Bekenntnis aber nicht aufgeht. Da es sich bei der Trennung von Religion und Politik um ein modernes Phänomen handelt, ist unbestreitbar, dass die Gesellschaften, in denen der Islam über Jahrhunderte die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bildete, eine eigene islamische Kultur herausgebildet haben – wie die christlichen Gesellschaften eine christliche. Der etwas schwammige Begriff „Kultur“ meint hier zunächst nichts anderes als einen Komplex von Moralvorstellungen, Herrschaftsverhältnissen, Eigentumsordnungen, religiösen Sinnstiftungen, Kommunikationsformen, Geschlechterbeziehungen und vielem mehr. Diese Kultur lässt sich selbstverständlich nicht eins zu eins aus dem Koran „ableiten“, entwickelt sich aber in kontinuierlichem und fraglosem Bezug zur religiösen Überlieferung. Jedem vormodernen Muslim war das ganz selbstverständlich, wie sogar noch an den aristotelischen Philosophen des Mittelalters erkennbar ist.

Man kann diese Beziehung zwischen Religion, Politik und Kultur auf die christliche Welt übertragen, allerdings nur dann, wenn man nicht vergisst, dass „Religionen“ erstens nur durch begriffliche Operationen strukturidentisch sind, nicht aber inhaltlich dasselbe predigen (etwa bezüglich der Beziehung zwischen Mensch und Gott, Leben und Tod, Reinheit und Unreinheit etc.), und zweitens die historische Entwicklung der islamischen und der christlichen Welt nur zum Teil parallel verlaufen ist. Dieser zweite Aspekt sollte nicht dazu verführen, einen abstrakten Gegensatz zwischen Orient und Okzident aufzumachen, aber es werden im christlichen Europa nun mal keine Homosexuellen an Baukränen erhängt und auch keine wegen Ehebruchs verurteilten Frauen gesteinigt.

Konsistent ist das nicht: Wo erst die blühende Vielfalt des Islam heraufbeschworen wurde, herrscht plötzlich nur noch Identität – alles dasselbe. Ein bisschen dialektischer darf’s dann schon sein, und gerade jemand, der sich auf Adorno bezieht, sollte die Frage nach der Einheit des Ganzen stellen. Die Antwort ist altbekannt: es ist der Wert als negative Synthesis, der die Individuen, Kollektive und Gesellschaften durch die radikale Enteignung des gesellschaftlichen Reichtums und die Verselbständigung seiner Formen, also durch die allseitige Lebensnot aufeinander bezieht. Entscheidend ist nun aber, wie die Einzelnen mit dieser totalen, negativen Vermittlung umgehen, die für sie die Perpetuierung von Existenzangst und Panik bedeutet. Es ist die älteste Funktion von Religionen, sinnstiftende Antworten auf das irdische Elend zu geben. In diesem Sinne ist die islamische Religion eine Ideologie, wie es auch in dem von uns mit unterstützten Aufruf heißt: „Der Islam ist keine schützenswerte Kultur, sondern eine furchtbare, autoritäre, gnadenlose Ideologie“. Fedders leitet seinen Text sogar mit diesem Satz ein, nur um uns kurz darauf in unredlicher Weise vorzuwerfen, wir betrachteten den Islam als unveränderbare metaphysische Essenz.

Genau hier, bei der Kritik des Islam als einer Ideologie, die spezifische Sinnstiftungen vermittelt und daraus Handlungsanleitungen für den Alltag generiert, müsste Fedders mit seiner geforderten „Religionskritik“ ansetzen. Doch nicht einmal die pseudokritischen Phrasen von Priestertrug bis Illusion spult er ab – lieber kneift er vor der Aufgabe, die wichtigste Antriebskraft für die konzedierten „im Namen von Allah tagtäglich [begangenen] zahlreiche Gräueltaten“ ins Visier der Kritik zu nehmen: den Islam. Stattdessen bewirft er andere mit Dreck, die sich vom gesellschaftlichen Gegenwind nicht abhalten lassen und immer noch davon überzeugt sind, dass man Menschen durch Kritik überzeugen und von ihrem Tun abhalten kann. Und dies gilt weniger für die Islamisten als vielmehr für diejenigen, die aus Furcht oder Opportunismus das Problem wegdifferenzieren wollen.