Freitag 22.09.2017, 19.30 Uhr
Probebühne (Alte Mensa/AStA Café),
Universitätsstraße 16a

Eine Veranstaltung der Georg-Weerth-Gesellschaft Köln

Mit freundlicher Unterstützung des Studierendenausschusses der Vollversammlung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln (StAVV)

Flyer zur Veranstaltung

Die Rede vom Racket erfreut sich unter Gesellschaftskritikern – insbesondere soweit sie sich in die Tradition der Kritischen Theorie stellen – großer Beliebtheit. Vom „Racket der Ärzte“ und „antirassistischen Rackets“ über russische Oligarchen und der Türkei unter Erdogan bis zur Islamischen Republik Iran und der Organisierten Kriminalität können mit diesem Begriff offenbar all jene organisatorischen Formen persönlicher Abhängigkeiten und jede Herrschaft jenseits von Tausch und Vertrag bezeichnet werden, die sich nicht unmittelbar in den herkömmlichen Begriffsapparat fügen wollen, wobei mal die Beutegemeinschaft, mal die Schutzfunktion durch Gehorsam und mal die politische Diskurshoheit die wichtigste Bestimmung des Racketbegriffs bilden.

Dementsprechend bleibt der Begriff oftmals seltsam unbestimmt, so dass jegliche Besonderheit der verschiedenen Formen der Herrschaft verloren zu gehen droht. Wenn der Begriff des Rackets dadurch aber nicht einmal mehr ermöglicht, zwischen der Mafia und der SS, zwischen Deutschem Gewerkschaftsbund und Hamas zu unterscheiden, verliert er nicht nur jeden kritischen Gehalt, sondern trägt ganz postmodern seinen Teil zur Zerstörung jeglicher politischen Urteilskraft bei.

In der Kritischen Theorie der 1930er und 1940er Jahre hingegen, in deren textlichen Fragmenten der Begriff des Rackets Erwähnung findet, schien er vielmehr gerade jene geschichtlichen Entwicklungen fassen zu wollen, die die bisherige marxistische Klassentheorie obsolet werden ließen.

Dieser war seit Ende des 19. Jahrhunderts, als die Arbeiterklasse und ihre Organisationen zunehmend in den Staat integriert wurden, der Bezug zur gesellschaftlichen Realität abhanden gekommen. Ebenso wenig vermochte es der traditionelle Marxismus, den durch das Bündnis von Kapital und Arbeit entstehenden Volksstaat begrifflich zu fassen, der zunehmend als Gesellschaftsplaner in Form eines bürokratischen Sozial- und Verwaltungsstaates auftrat. Dieser ersetzte durch Interventionen und deficit-spending die über den Markt vermittelte Zirkulation, zugleich wurden durch das Regieren in Form von Notverordnungen und Präsidialkabinetten aufgrund fehlender parlamentarischer Mehrheiten die Gewaltenteilung und durch temporäre Verhängung des Ausnahmezustands die individuellen Bürgerrechte eingeschränkt, obwohl gleichzeitig Konkurrenz, relative Mehrwertproduktion und Rechtsstaat formell weiter fortbestanden.

Der Begriff des Rackets, soweit er von Max Horkheimer als gesellschaftliche Organisation der Verteilung von Beute und Gewährung von Schutz im Gegenzug zu rückhaltlosem Gehorsam verstanden wird, scheint daher wie ein Versuch, diese Abschaffung der gesellschaftlichen Vermittlung theoretisch zu fassen.  Gleichzeitig wirft dies die Frage der Souveränität auf, da unklar bleibt, ob eine in miteinander konkurrierende und verfeindete Rackets zerfallende Gesellschaft überhaupt noch in Einheit zu bringen ist und worin diese Einheit bestehen könnte.

Soweit eine Theorie des Rackets bei diesen Überlegungen aus den 1930er und frühen 1940er Jahren stehen bleibt, die sich letztlich doch um die Analyse des Nationalsozialismus dreht, verweigert sie sich jedoch der Einsicht, dass die Herrschaft der Rackets im Nationalsozialismus nicht mehr bloße Schutz- und Beutegemeinschaften bedeutete. Zugleich versäumt es eine solche Begriffsbestimmung, die Aktualität des Racketbegriffs auch in der postnazistischen Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Wenn der Nationalsozialismus und seine politische Struktur einfach auf die postnazistische Demokratien, islamistische Terrorgruppen oder politische Interessensverbände übertragen wird, geht sowohl die Spezifik des Nationalsozialismus unter als auch ein adäquater Begriff der herrschenden Verhältnisse.

Der Nationalsozialismus radikalisierte und vollendete die Zerstörung der politökonomischen Vermittlungen der bürgerlichen Gesellschaft, indem er das Parlament zerschlug und die verbliebenen Berufsorganisationen in staatliche Massenorganisationen überführte. Zugleich ersetzte er in der zunehmend auf Kriegswirtschaft ausgerichteten Produktion den Markt durch staatlichen Rüstungskonsum und ordnete die gesellschaftliche Arbeit dem Vorbehalt der Nützlichkeit für Volk und Führer unter, was mit der Abschaffung persönlicher Grundrechte einherging. Hierdurch entstand jedoch gerade kein durchorganisierter Staat mit starrer Bürokratie und klar davon abgegrenzter Partei als jenen tragende Bewegung. Vielmehr bedeutete die Abschaffung der Vermittlung zugleich die Entfesselung der panischen und auf ihr „bestialisches Eigeninteresse“ (H. Marcuse) reduzierten Subjekte. Die verschiedenen Gliederungen der nationalsozialistischen Massenorganisation, die Parallelität von Partei, SS, Staatsbürokratie, Wehrmacht und Wirtschaft schaltete diesen entfesselten Subjektivismus nicht etwa aus, sondern gab ihm erst die entgrenzte Form, innerhalb derer er sich hemmungslos austoben konnte. Über allem stand der reale oder imaginierte Führerwille, der so diffus war, dass letztlich erst die absolute Feinderklärung gegen die Juden eine stets prekäre Einheit zu stiften in der Lage war. Die in den unterschiedlichsten Gruppen und Bewegungen eingebundenen Subjekte konkurrierten zwar miteinander um Karriere, Beute und Schutz, aber die Dynamik des allseitigen Kampfes stellte auch die Bedingung für eine permanente Radikalisierung des Judenmordes. Die fehlende Einheit der Rackets realisierte sich daher durch die Vernichtung der als „Gegenrasse“ projizierten Juden, gleichermaßen als Antizipation wie Umsetzung des Führerwillens – eine Dynamik, die nur durch die militärische Gewalt der Alliierten von außen gestoppt werden konnte.

Der Sieg der Alliierten bedeutete die aufgezwungene Reinstallation der markt- und rechtsförmigen Vermittlungen in Form einer reproduktiven Ökonomie sowie eines Rechtstaats mit Parlament und Gewaltenteilung. Dies geschah jedoch auf der politischen, wirtschaftlichen und sozialpathologischen Grundlage der nationalsozialistischen Gesellschaft. So wurden zur Verhinderung einer erneuten Verfassungskrise Teile des nationalsozialistischen Ausnahmezustands in die rechtsstaatliche Normalität integriert, während die Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit die demokratisierte Fortsetzung der Reichsarbeitsfront bedeutete. Die nationalsozialistische Politik der totalen Mobilmachung zur Vernichtung wurde so einerseits in das einzelne Subjekt wie in die Formen der gesellschaftlichen Vermittlung selbst verlagert, andererseits waren und sind es gerade diese, die in Gestalt der formellen, abstrakt-allgemeinen Grundrechte einer erneuten allgemeinen Mobilmachung Grenzen setzen. Auch wenn sich große Teile der deutschen Bevölkerung und insbesondere der deutschen Eliten heutzutage als geläuterte Vergangenheitsbewältigungsweltmeister und antirassistische Großmacht verstehen, so hat die nach 1945 durchgesetzte Reeducation eher zu einer Kanalisierung, Bändigung und Umleitung der wahnhaften und destruktiven Triebe auf Ersatzobjekte bei gleichzeitiger Verwehrung der asozialen Trieberfüllung geführt. Die formale Zivilisierung der Deutschen, zu der diese Reeducation unzweifelhaft beigetragen hat, heizt daher gleichzeitig die destruktive Dynamik innerhalb der Subjekte an. Dies ist auch der Grund, warum die postnazistischen Subjekte gerade dann gegen gesellschaftliche Institutionen wie Bürokratie, Justiz oder auch die Wissenschaft agitieren, wenn sie sich in der Ausübung ihres Größenwahns, ihrer wahnhaften Meinungsbildung wie ihres Strafbedürfnisses gehindert fühlen. Soweit sie sich dabei zu Kampagnen, Bewegungen oder sogar Parteien zusammenrotten, scheint es diesen bislang jedoch an der nötigen dauerhaften Bindung zu fehlen, gerade weil eine erneute Einheit in der Vernichtung der Juden schon qua antifaschistischem Selbstverständnis verunmöglicht wird und zudem das zwiespältige Credo, wonach die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsraison sei, vorerst auch eine offene militärische Mobilmachung gegen Israel verhindert. Während Islamisten ihre Judenfeindschaft nur dank Ausländerbonus und Opfergehabe relativ ungehindert verbreiten können, sind Neonazis gesellschaftlich und politisch noch immer marginalisiert. Beide eint jedoch, dass sie das einheitsstiftende Moment des Antisemitismus erkannt haben und sich solcherart als eine Alternative für Deutschland und die Welt anpreisen, die in einer zerrissenen Welt wieder Ordnung und Sicherheit schaffen könne. Die etablierten Parteien und Verbände in Deutschland begegnen diesem Werben zunehmend hilflos und verweisen darauf, dass nach ihnen alles nur noch schlimmer werde. Der Erfolg – geringe Arbeitslosenquote und wirtschaftliche Prosperität – gebe dem Modell der liberalen Demokratie recht.

Unsichtbar wird hierbei jedoch, dass der paternalistische Sozialstaat als einstiger Garant gesellschaftlicher Einheit durch Wohlstand spätestens seit der Verabschiedung der Hartz-Gesetze wieder weniger als fürsorglicher Vater, sondern zunehmend als reine Zwangsgemeinschaft auftritt, was mit einem gleichzeitigen Auslagern einstiger staatlicher Aufgaben und Leistungen an gesellschaftliche Institutionen einhergeht, in deren innerer Organisation die ansonsten geltenden politökonomischen Vermittlungen zum Teil bereits außer Kraft gesetzt sind – die also den vollen Gehorsam des Unterworfenen fordern – und deren Zweck in der Verteilung der Beute und der Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes gesellschaftlicher Ordnung zu liegen scheint.

Das neoliberale „Outsourcing des Staates“ hat zu der Situation geführt, dass nun nicht-staatliche Gruppen zunehmend Ordnungsfunktionen des alten, zentralisierten Sozialstaates übernehmen. Es ist kein Zufall, dass der Bedrohung durch islamischen Terrorismus nicht nur durch Repression und Integrationspolitik begegnet wird, sondern auch durch eine Aufwertung der Moscheevereine und Imame zu community-internen Ordnungshütern. Die Tatsache der Parallelgesellschaften wird damit freimütig akzeptiert und in schlecht kommunitaristischer Manier den bärtigen Männern überlassen, sich doch bitte um die eigenen Belange selbst zu kümmern. Nicht nur materiell, vor allem ideologisch scheint die bestehende Gesellschaft nichts mehr anzubieten zu haben, was die fragmentierten Gruppen im Sinne eines gesellschaftlichen Konsenses einen könnte. Damit schlägt die Stunde der racketeers, die nicht nur ideologische Rationalisierungen des subjektiven Wahns im Gepäck haben, sondern auch materielle Absicherung und die Ausagierung destruktiver Triebe anbieten.